Mein Nesthäkchen-Moment.

Bitte was? Mein Nesthäkchen-Moment. Im Fitnessstudio. Auf dem Crosstrainer. Nesthäkchen kennst du, oder? Die Weihnachtsserie von 1983. Aber der Reihe nach. Denn mein Nesthäkchen-Moment hat ganz viel mit dem Ausräumen meines Elternhauses zu tun. Und mit der Playlist meines Lebens.

Gefühlt kommen wir mit dem Haus nur schleppend voran. Seit gut einem halben Jahr ist mein Papa nun tot. Wobei das mit schleppend vorankommen, wie alles eine Frage der Perspektive ist. Wir könnten uns auch einfach auf die Schulter klopfen für das, was wir schon geschafft haben. Warum ist man eigentlich immer so kritisch mit sich selbst?

Eine Reise in die Vergangenheit.

Dieses Ausräumen ist ein unglaublicher Trip in meine Kindheit, aber auch in die Geschichte meiner Familie. Ich erfahre Dinge, von denen ich bislang keinen blassen Schimmer hatte. Ich finde es unglaublich faszinierend und ich gönne mir die Zeit in diese Geschichten einzutauchen. Kopfüber und rein. Dafür leidet meine Konzentrationsfähigkeit an anderer Stelle. Aber so ist das halt. Und ja, es gibt auch Sachen, die nicht so toll sind. Wie immer gilt: Es ist nicht alles eitel Sonnenschein. Punkt.

Lachen kann ich über die aus heutiger Sicht skurrilen Dinge, wie die säuberlich aufbewahrte Erlaubnis von der Funkstörungsmessstelle des Fernmeldeamtes für die Mikrowelle, die meine Eltern 1988 angeschafft haben. Eine amtliche Erlaubnis für den Betrieb einer Mikrowelle? Echt jetzt? Wusstest du das?

Die Erlaubnis für den Betrieb der Mikrowelle aus dem Jahr 1988.

Der letzte eheliche Verkehr…

Wilder wird es bei der Scheidung meiner Oma. 1953 hat sie sich endgültig von meinem Opa getrennt, den ich nie kennengelernt habe und dessen Stimme ich als Kind nur einmal am Telefon gehört habe. Diese Scheidung war bestimmt ein wahnsinnig großer Schritt in dieser Zeit. Mein Opa hat dann auch lt. Gerichtsurteil seine Schuld eingestanden . Ok… Genau in diesem Gerichtsurteil lesen meine Schwester und ich dann auch, dass der letzte eheliche Verkehr meiner Großeltern Ende Oktober 1952 stattgefunden hat. Wie bitte? Glaub mir, ich bin fast vom Stuhl gefallen.

Ein Auszug aus dem Gerichtsurteil zur Scheidung meiner Oma aus dem Jahr 1953.

Die Zeiten ändern sich…

… und das wird mir beim Durchschauen all dieser Unterlagen mehr als bewusst. Im Alltag kriegt man das ja manchmal irgendwie nicht mit. So wie ich auch immer wieder erstaunt bin, wie groß die Kinder jetzt eigentlich schon sind. Selbst die Zeit als ich in den 80igern ein Kind war, kommt mir so anders vor als heute. Gefühlt viel langsamer, aber auch eintöniger. Vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, vielleicht ist es einfach das normale Kinderempfinden von Zeit.

Nun aber: der Nesthäkchen-Moment.

Als ich das letzte Mal aus meinem Elternhaus gekommen bin, habe ich einen Teil meiner alten Kassetten mitgebracht. Ich habe sogar eine alte Kassette gefunden, auf der ich 1981 u.a. Hänschen Klein gesungen habe. Auch meine Mama und meinen Papa hört man auf dieser Kassette und es hat mich getroffen – ich kann das schlecht beschreiben: wie eine positive irgendwie warme Welle – ihre Stimmen zu hören. Hey, heute hat man unendlich viele Videos, die auf meinem Handy größtenteils vergammeln, aber diese Kassette ist ein einzigartiges Relikt. Denn es gibt genau diese eine Kassette mit einer Aufnahme. Ich bin unendlich dankbar, dass ich diese Kassette im Schreibtisch meiner Mama gefunden habe, sie nach 39 Jahren noch funktioniert und in unserem Wohnzimmer die Stereoanlage meines Mannes mit Kassettendeck steht, die er vor 28 Jahren geschenkt bekommen hat und bislang nicht gegen ein neueres Gerät ausgetauscht hat.

Außerdem habe ich eine Kassette gefunden, die ich 2003 aufgenommen habe. 2003 hat man noch Kassetten gehört und aufgenommen? Ich komme irgendwie nicht so richtig mit.

So. Nun aber wirklich: der Nesthäkchen-Moment.

Es gibt so vieles, dass ich mit meiner Kindheit und meiner Jugend verbinde: natürlich die Menschen, aber auch Orte, Gerüche, Essen, Getränke und, und, und. Vieles habe ich in den letzten 25 Jahren ausgeblendet. Was ja auch total normal ist. Jetzt ist es gerade wieder total präsent.

Stell dir also vor, ich stehe an einem Freitagabend (wann man als Mama halt so Zeit hat und was in der Zeit vor Corona noch so ging) im Fitnessstudio auf dem Crosstrainer, bewaffnet mit meinem Smartphone, Kopfhörern und einem bekannten schwedischen Musikstreamingdienst. Ich überlege, was ich heute beim Sport hören könnte. Ich denke daran, dass ich den Kindern ja die alten Hörspielkassetten mitgebracht habe. Und da ist mir die Nesthäkchen-Kassette in den Sinn gekommen.

Ich wähle also das Nesthäkchen Intro aus, das bei besagtem Streamingdienst zum Angebot gehört. Die ersten Töne erklingen und es durchfährt mich wie einer warmer Blitz. Ich kann nicht anders als die Augen zu schließen, wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen und ein bisschen zur Musik zu tanzen. Wohlgemerkt auf dem Crosstrainer beim Ausdauertraining. Es fühlt sich nach Kindheit, Sicherheit und Geborgenheit an.

Foto: Fred Lindinger/TV 60 München

Ob ich die Serie (und die Musik) nach heutigen Gesichtspunkten für gut erachte sei mal dahingestellt. Es geht um die Erinnerung und der gebe ich mich kurz und völlig überraschend hin. Bisschen bescheuert? Auf jeden Fall. Aber das tut verdammt gut.

Die Playlist meines Lebens

Beim Schreiben dieser Zeilen kommt mir der Gedanke, dass ich dieses Lied eigentlich auch gerne hören würde, wenn ich sterbe, denn Sterbende hören noch sehr gut. Der österreichische Hospizverband schreibt dazu:  

„Achten Sie darauf, was am Bett der/des Sterbenden gesprochen wird, gehen Sie stets davon aus, dass er/sie alles hören kann, auch wenn er/sie nicht mehr antworten kann. Das bedeutet zugleich, dass Sie ihm/ihr noch alles sagen können, was Sie schon immer sagen wollten – Sie können davon ausgehen, dass Ihre Worte ankommen“.

Cool. Vielleicht sollte ich mir mal eine Playlist meines Lebens zusammenstellen, die ich dann – hoffentlich mit lieben Menschen – in meinen letzten Tagen/Wochen/Momenten hören kann. Beim Tod der Oma meines Mannes habe ich miterlebt, wie lange so ein Sterbeprozess dauern kann. Da wäre ein bisschen Musik eine gute Abwechslung. Und es gibt noch bessere Lieder aus meinem Leben, die mir viel bedeuten, wie z. B. unser selbst zusammen geschnittener Hochzeitstanz. Hach, der Gedanke einer Playlist meines Lebens gefällt mir.

Gibt es die Melodie, das Lied deiner Kindheit? Fällt dir spontan etwas ein, was du vielleicht schon längst vergessen hast? Wie fühlt es sich an, dieses Lied zu hören? Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir davon erzählst. Schön, dass du da bist.

4 Kommentare zu “Mein Nesthäkchen-Moment.

  1. Kerstin

    Oooooh Nesthäkchen muss ich jetzt gleich dringend anmachen. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, weiß aber, dass ich es auch als Kind gesehen habe (und manchmal gruselig fand..).
    Bei mir löst die Löwenzahnmelodie sofort Freude und Leichtigkeit aus. Ich habe es geliebt ?.
    Schön, dass du erwähnt das Sterbende noch sehr gut hören! Denn das wird so oft vergessen!
    Ist übrigens auch bei Wachkoma oder anderen schweren neurologischen Verletzungen so.

    Herzliche Grüße
    Kerstin

    • Löwenzahn! Au ja, das ist auch großartig. Auf jeden Fall auch ein Teil meiner Kindheit, der sich nach Freude, Neugier und spannenden Geschichten anfühlt. Die Erinnerung zaubert mir direkt ein fettes Grinsen ins Gesicht. Ich habe es mir gerade nochmal angehört und das wird DER Ohrwurm meines Tages. Dümmdümmdüdüdümm… Löwenzahn. 🙂

      Und danke für den Hinweis zum Wachkoma und den anderen neurologischen Verletzungen. Das ist so wichtig.

      Alles Liebe
      Karin

  2. Liebe Karin, ganz wunderschöner Beitrag von dir. Nesthäkchen kenne ich nicht, andere Generation, aber ich kann kich trotzdem so gut reinfühlen in das, was du hier beschreibst. Viele Grüße Claudia

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